Melchior-Areal
Die 1816 in Nürtingen gegründete Baumwollspinnerei und -färberei Otto war einer der frühesten Industriebetriebe Württembergs. Wichtige Voraussetzungen für die Standortwahl J. F. Ottos waren das zunächst ausreichende Vorhandensein von Wasserkraft durch den Neckar sowie gelernter Arbeitskräfte in der Spinnerei des hiesigen Spitals (seit 1766). 1816 wurde die Spinnerei mit 204 Spindeln in Betrieb genommen. Zur Ausstattung des Betriebs gehörten „einige Karden, eine Strecke, eine Laternenbank und eine Vorspinnmaschine“. Hinzu kamen zwei Feinspinnmaschinen mit je 102 Spindeln, sogenannte Mules, sowie später die erste dampfbetriebene Spinnmaschine, die Spinning Jenny. Die Baumwolle wurde aus Süditalien, Mazedonien und der Levante, später auch aus Amerika und Indien bezogen. In der Färberei spezialisierte sich Otto auf die Farbe Türkischrot. Der dazu benötigte Krapp wurde aus Südfrankreich, das Olivenöl aus Italien bezogen.
Die Firma wuchs in den folgenden Jahrzehnten unter dem späteren Familienzweig Melchior. Die am Standort Nürtingen sehr begrenzte Nutzungsmöglichkeit der Wasserkraft, führte dazu, dass der Familiezweig Otto im Jahr 1860 nach Unterboihingen zog, da dort die gesamte Wasserkraft des Neckars nutzbar war. 1976 stellte auch die Familie Melchior ihren Betrieb in Nürtingen ein. Im Frühjahr 1981 rollten am Nürtinger Neckar die Bagger an. Eine Hälfte der Melchior-Fabrik wurde abgerissen. Drei Tage nach Beginn der Arbeiten verhinderte K. H. Türk den vollständigen Abriss der ersten Baumwollspinnerei Württembergs und der ältesten Industrieanlage Nürtingens. Türk, der 1976 mit Gleichgesinnten die Freie Kunstakademie Nürtingen (FKN) gegründet hatte, ist visionär. In Eigenleistung und mit öffentlicher Unterstützung wurde die alte Fabrik zu einem „Kunstbetrieb“ umgebaut.
Die Geschichte des Areals ist ein Paradebeispiel für die Konversion von industriellen Liegenschaften: Wo früher Garne produziert wurden, wird heute Kunst studiert. Nürtingen ist damit bei der Umnutzung alter Industriearchitektur für Kultur- und Bildungszwecke ein Vorreiter im Land. Die Umwandlung ehemaliger Industrieanlagen für kulturelle Zwecke ist ein Phänomen der europäischen Nachkriegsära, das in den 1980er-Jahren vor allem in urbanen Ballungszentren zu beobachten ist. Das gesamte Gebäudeensemble steht seit 1987 unter Denkmalschutz.